Programm 01. - 20.08.2009

 
Flüsterpost

 Vorbemerkung zu den "Flüsterposten"


Das Prinzip der Flüsterpost besteht darin, dass in einem beliebig großen Kreis von Menschen eine beliebig große Menge Sprache von Ohr zu Ohr geflüstert wird und so durch den Kreis wandert. Die Sprache wird dem Nebenmann so leise und so präzise wie möglich eingeflüstert und wird weitergegeben, bis die Botschaft wieder beim Startpunkt angelangt ist. Der Spaß des Spiels ist dabei zweierlei: das Flüstern selbst, v.a. wenn sich eine Menge Sprache einstellt, über deren lautes Sprechen man sich ggf. schämen würde, und zum anderen natürlich die Veränderung des Sprachmaterials, die sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einstellt, egal wie groß die Gruppe war, oder wie präzise sie geflüstert hat. Dieser sprachproduktive Prozess, den man von Kindergeburtstagen kennen mag, wurde im Zuge der Ausstellung Betakontext als Herstellungsfunktion lyrischer Texte erprobt. Das Experiment darf als geglückt bezeichnet werden.

 

An acht Abenden wurde das Spiel je sieben Mal gespielt, was zur Entstehung von sieben je neunstrophigen Gedichten führte. Der Mechanismus war wie folgt aufgebaut: Am ersten Abend begannen die Flüsterposten mit den ersten Strophen s, die Tobias Roth verfasst hatte. Wie unschwer zu erkennen sein wird, nehmen diese ersten Strophen Bezug auf das Rahmenthema der Ausstellung Betakontext, versuchen extrem spaltbares Material in Form von seltenen, weitgehend unbekannten oder reimenden Worten zu liefern, implementieren narrative Strukturen ("Es war einmal...") oder Anspielungen (Es waren zwei Königskinder) und Ähnliches. Die ersten Strophen s wurde durch die ersten Flüsterposten verändert und wurden in ihrer veränderten Gestalt als zweite Strophen s′ der Gedichte gesetzt. Diese zweiten Strophen s′ bildeten die Zündladung für den zweiten Abend, der die dritten Strophen lieferte, und so ging es weiter. Stark abstrahiert ließe sich der Mechanismus also so darstellen:

 

Erste Strophe: s

 

Zweite Strophe: f(s) = s′

 

Dritte Strophe: f(s′) = s′′

 

Vierte Strophe: f(s′′) = s′′′

 

und so weiter.

 

Das heißt, dass mit keinem Vers zweimal gespielt wurde und der Grad der Permutation exponentiell anstieg. Schon nach wenigen Abenden war vom originalen Wortbestand rein gar nichts mehr vorhanden. Es gab keine Kontrollgruppe.

 


 

Mit strengen Regeln die Sprache zu einer Erweiterung zwingen, ohne gestalterisch im traditionellen Sinne einzugreifen: wer in den "Flüsterposten" eine Antwort auf Oulipo ahnt, ahnt ganz richtig. Es erscheinen uns aber Menschen schöner, lyrischer und interessanter als etwa der Petit Robert, wenn wir die Sprache nach unsrer Pfeife wollen tanzen lassen. Die sieben Gedichte, die so entstanden sind, pendeln inhaltlich zwischen Dadaismus und Surrealismus, konzeptionell aber stellen sie einen selbstreflexiven Wechsel von Aufbau und Zerstörung dar, der schlichtweg frühromantisch ist. Je nach dem, welchen literaturtheoretischen Fahneneid man geleistet hat, kann man also behaupten, der Gedichtzyklus habe einen, keinen, 92 oder (für die ganz Spitzfindigen) 644 Autoren.

 

Das Spiel aus Wahrnehmen, Verstehen und Reproduzieren, das Literatur in Produktion, Rezeption und Vermittlung prägt wird hier auf kleinstem Raum wiederholt, vervielfältigt und intensiviert. Jeder einzelne Spieler wird, wenn er an der Reihe ist, durch das Spiel dazu gezwungen, sich mit allen Gedächtnis- und Sprachkräften auf den jeweiligen Vers zu konzentrieren und einzulassen: jenseits von Geschmack, Auslegung und Vorwissen. Dass dennoch jeder nur hört, was er hört, und jeder nur sagen kann, was vom Gehörten übrig geblieben ist, wäre für Sprachkritiker, für Kultur- und Menschenpessimisten sicherlich ein Grund zum Lamento, zum Geschrei, und es ist schon mehrfach aus geringeren Gründen das Ende der Kunst, das Ende der Literatur, der Tod des Autors ausgerufen worden. Wir umarmten diese liebenswerten Eigenheiten des menschlichen Gehirns für die Produktion des Zyklus "Flüsterposten". Ansonsten bleibt ja alles beim Alten.


 

Teilnehmerstatistik

3.8.09: 7 Leute

5.8.09: 8 Leute

6.8.09: 10 Leute
Übersetzungen: Englisch/Tschechisch/Slowakisch

9.8.09: 11 Leute

11.8.09: 11 Leute
Übersetzungen: Englisch/Spanisch/Französisch

13.8.09: 12 Leute

15.8.09: 12 Leute

17.8.09: 19 Leute

zu den Texten